Professionelle Personalauswahl – in Zeiten von New Work ein Auslaufmodell?

Ist Professionelle Personalauswahl ein Auslaufmodell?

Co-Autorin: Natalie Gouasé

Während einerseits Unternehmen in Deutschland verstärkt auf valide, psychologisch fundierte Verfahren und eine professionelle Personalauswahl zurückgreifen und sich aktuelle Initiativen wie die Recruitingrebels für mehr Vernunft und weniger Bauchgefühl bei der Personalauswahl einsetzen, scheint andererseits das Interesse an qualitativ guter Personalauswahl in Zeiten von Arbeit 4.0 abzunehmen.

In einer VUCA-Welt, geprägt von Digitalisierung und Globalisierung, haben Wissen und Erfahrung eine geringe Halbwertzeit, und man schaut weniger auf Zertifikate und Zeugnisse, wenn es darum geht, die oder den Richtige(n) zu finden, um komplexe Problemstellungen zu lösen. Die Lösung, wenn man Herb Kelleher, einst CEO bei Southwest Airlines, glaubt: „Hire for attitude, train for skills“. Demnach sollte sich das Recruiting auf Persönlichkeit und Haltung konzentrieren, weniger auf Wissen und Fähigkeiten.

Zugleich sorgt ein anderer Megatrend, nämlich der Demografische Wandel, für eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Im neu entfachten war for talents wird der Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt. Angesichts abnehmender Bewerberzahlen pro freier Stelle sinkt die Bereitschaft von Unternehmen, Zeit und Kosten in die Auswahl der Geeignetsten zu investieren. Auch steigt die Sorge, interessante Bewerber*innen durch unliebsame Auswahlverfahren abzuschrecken, ungeachtet deren nachgewiesener Validität. Als Konsequenz verschieben sich Schwerpunkte und Ressourcenallokationen von der Personalauswahl hin zum Personalmarketing.

Was bedeutet das für die Zukunft von Personalauswahlverfahren? Wir sind der Auffassung, dass es nach wie vor gute Argumente für eine qualifizierte und valide Personalauswahl gibt. Drei Gründe, warum gute Diagnostik weiterhin wichtig ist:

1. Professionelle Auswahlverfahren verbessern das Onboarding

In erster Linie fungiert das Auswahlverfahren als Hilfsmittel bei der Entscheidungsfindung. Nach systematischer Analyse der Job-Anforderungen und darauf aufbauender Ausgestaltung der diagnostischen Elemente durchlaufen die Bewerber*innen den Auswahlprozess. Am Ende ergibt sich für jede(n) Bewerber*in ein individuelles Kompetenzprofil. Im Abgleich mit den Anforderungen lässt sich jeweils der Grad der Eignung abschätzen, und mehrere Teilnehmer*innen können hinsichtlich ihrer Eignung in eine Rangreihe gebracht werden. Mit der getroffenen Entscheidung für eine(n) bestimmte(n) Bewerber*in endet jedoch nicht der Erkenntnisgewinn des Auswahlverfahrens.

Vielmehr kann das Ergebnis des Auswahlverfahrens für ein frühzeitiges und zielgerichtetes Onboarding verwendet werden. Klassisch beginnt das Onboarding mit der Vertragsunterzeichnung, erstreckt sich über die Probezeit und kann bis zum Ablauf des ersten Jahres in der neuen Position reichen. Erkenntnisse, die im Auswahlverfahren gewonnen wurden, lassen sich aber schon früher, nämlich ab dem nächsten Tag für das Onboarding nutzen. Insbesondere Themen, die der Bewerbende in Eigenregie bearbeiten kann, lassen sich unverzüglich angehen. So können fachliche Wissenslücken geschlossen oder Sprachkenntnisse aufgefrischt werden. In Abstimmung mit dem neuen Unternehmen können auch umfangreichere Maßnahmen geplant und rasch begonnen werden. Auf diese Weise geht keine Zeit verloren – und je aussagekräftiger und differenzierter die Ergebnisse des Auswahlprozesses sind, desto zielgenauer können die zu ergreifenden Maßnahmen ausfallen. Gerade substanzielle Lernfelder (bei sonst grundsätzlich vorliegender Eignung) lassen sich so bereits vor dem ersten Arbeitstag im neuen Job weitgehend schließen, was das Ankommen erleichtert und zu einem erfolgreichen Start beiträgt.

2. Professionelle Personalauswahl als Beitrag zum Employer Branding

In Zeiten, in denen der Bewerbungsprozess ein gegenseitiger ist, legen Unternehmen verstärkt Wert darauf, sich positiv und attraktiv darzustellen. Ein gutes Candidate Experience Management (CXM) zielt darauf ab, möglichst alle Kontaktpunkte der Bewerbenden mit dem potenziellen neuen Unternehmen als positive Erfahrungen zu gestalten. Gelingt dies, zahlt das auf die Arbeitgebermarke ein. Gelingt dies nicht, verfolgen Bewerbende ihre Bewerbung nicht weiter, springen als Kunden ab und berichten anderen von ihren negativen Erfahrungen – die Arbeitgebermarke wird beschädigt. Beim CXM lassen sich viele Kontaktpunkte betrachten, von der ersten Kontaktaufnahme mit dem Unternehmen oder der Stellenanzeige bis hin zum ersten Tag im neuen Job.

Ein wichtiger Kontaktpunkt auf diesem Weg ist das Auswahlverfahren. Unternehmen, die diagnostisch fragwürdige und bei Bewerbenden nicht akzeptierte Verfahren einsetzen, verlieren Reputation. Gute Bewerbende verstehen sich als Profis und suchen in gleicher Weise professionelle Unternehmen als Arbeitgeber. Und eine wichtige, erste „Arbeitsprobe“ des neuen Unternehmens ist das Auswahlverfahren. Wollen Sie auf Basis eines graphologischen Gutachtens und eines zwielichtigen Persönlichkeitstests eingestellt oder – vielleicht schlimmer noch – abgelehnt werden? Nein? Willkommen bei den Profis … 

Bewerbende informieren sich intensiv über mögliche Auswahlverfahren, und die guten werden auch häufiger eingeladen, sodass sie über Vergleichsmöglichkeiten verfügen. Ein anspruchsvolles, professionelles Verfahren mit hoher Akzeptanz bei Bewerbenden macht ein Unternehmen attraktiver. Und wenn es dann noch gelingt, den nicht genommenen Bewerbenden (und diese sind deutlich in der Überzahl) ein hilfreiches Feedback zur Verfügung zu stellen, welches als persönlich hilfreich und nützlich bei weiteren Bewerbungsaktivitäten erlebt wird, dann gewinnt ein Unternehmen auch mit einer Absage.

3. Hire for attitude …

Mit der Verschiebung der Kräfteverhältnisse als Folge des Demografischen Wandels verliert das Schlüssel-Schloss-Prinzip als Paradigma der Personalauswahl an Bedeutung. Ausgehend von den Anforderungen einer Stelle (das „Schloss“) wird mittels Personalauswahl traditionell der richtige „Schlüssel“ gesucht. Da jedoch die Zahl der zu probierenden Schlüssel abnimmt (und zudem das Schloss stärker als in der Vergangenheit Veränderungen unterworfen ist), ändert sich die Blickrichtung. Es geht jetzt verstärkt darum, interessante „Schlüssel“ zu identifizieren und dann dafür korrespondierende Schlösser zu finden.

Was heißt das – weniger metaphorisch – für eine zeitgemäße Personalauswahl? Neben der Erfassung von „skills“, also den Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, rückt die dahinterliegende Persönlichkeit stärker ins Zentrum der diagnostischen Betrachtung. Es geht um Werte und Überzeugungen, um Sinnstiftung (neudeutsch: purpose) und Mindset. Die Entscheidung für einen Job ist mehr als die Wahl des nächsten Brötchengebers und verlangt, dass Person und Organisation „fundamental characteristics“ teilen. In der HR-Literatur spricht man hier von „Cultural Fit“ oder „Person-Organization Fit“. Die Idee dahinter, die auch durch eine Reihe von Forschungsergebnissen gestützt wird, besagt, dass eine gute Passung zwischen Person und Organisation zu zufriedeneren und kreativeren Mitarbeitenden führt. Und diese Mitarbeitenden bleiben dem Unternehmen auch länger erhalten, was angesichts des vielfach beklagten Fachkräftemangels die Bedeutung einer solchen guten Passung für Unternehmen erhöht.

Wie lässt sich jetzt die Qualität dieser Passung ermitteln? Spätestens hier sollten wir graphologische Gutachten zur Seite legen und uns anderer diagnostischer Instrumente bedienen. Zunächst geht es darum, die eigene Unternehmenskultur zu kennen und zu definieren. Was sind die oft verborgenen Bestandteile, die das Unternehmen maßgeblich prägen? Wie werden Entscheidungen getroffen? Welche Traditionen sind wirksam? Welche unausgesprochenen Werte in der gemeinsamen Arbeit sind handlungsleitend? 

Nachdem die Unternehmenskultur definiert ist, geht es darum, den Cultural Fit durch sorgsam entwickelte Testfragen und Methodiken sichtbar zu machen. Neben digitalen Matching-Systemen (z. B. mit Online-Fragebogen) lassen sich entsprechende Fragen auch in ein Interview einbauen. Ein geübter Interviewer weiß dabei, wie man sozial erwünschten Antworten entgegengewirkt. Nicht zuletzt bietet es sich an, hier gegenüber dem Bewerbenden im Interview größtmögliche Transparenz zu schaffen. Es ist für beide Seiten vorteilhaft, mit offenen Karten zu spielen. Und Offenheit steht sicherlich auf zahlreichen Wertekatalogen von Personen und Organisationen ganz weit oben.

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