Alles nur Chancen? – Grenzen einer Systemischen Eignungsdiagnostik

In diesem Beitrag

Du willst Potenzialträger:innen entdecken und fördern, ohne dass sich dabei andere als „Verlierer:in“ fühlen? Du möchtest die Selbstverantwortung von Mitarbeitenden fördern und damit Alltagstransfer von Entwicklungsmaßnahmen sichern? Du willst Talenten bei der beruflichen Orientierung helfen und so die Bindung ans Unternehmen erhöhen?

Dann kann die Systemische Eignungsdiagnostik etwas für Dich sein. Mit diesem Begriff bezeichnen wir den Ansatz, wissenschaftlich fundierte Eignungsdiagnostik mit systemischer Haltung und systemischen Methoden zu kombinieren. Ich bekenne, dass ich ein großer Fan von der Idee Systemischer Eignungsdiagnostik bin und mit viel Energie und Herzblut dabei bin, sie weiter zu verbreiten.

Und gleichzeitig: HALT! STOPP! Bei aller Begeisterung ist die Systemische Eignungsdiagnostik natürlich nicht das gelobte Land der Personalentwicklung. Mir ist es wichtig, das Vorgehen kritisch zu reflektieren. In meinen Online-Impulsen zum Thema „Neue Wege gehen – Eckpfeiler und Praxisbeispiele Systemischer Eignungsdiagnostik“ diskutiere ich gemeinsam mit den Teilnehmenden daher immer auch über Chancen und Grenzen einer Systemischen Eignungsdiagnostik.

Haltung geht vor Methodik – oder: Achtung vor „Methoden-Gerippen“!
– Keine Systemischen Development Center ohne ein Verständnis der systemischen Haltung.

Sei es die Arbeit mit Multiperspektivischem Feedback oder mit Reflecting Teams, Sharing, Reframing, etc. – der systemische Methodenkoffer ist vielfältig und lässt sich wunderbar in Development Centern anwenden. Aber ohne ein Verständnis der dahinterliegenden systemischen Haltung und Einstellung, wie z. B. Selbst-Expertentum, Wirklichkeit als Konstruktion oder Ressourcenorientierung, wirkt ein systemisches Verfahren nicht authentisch (oder gar „blutleer“), da die Methoden nicht zur Grundhaltung passen. Damit ein systemisches Verfahren seine Wirkung entfaltet, müssen die Beteiligten gut geschult werden und zum Beispiel verstehen, weshalb Feedback in einem Development Center auch mal indirekt und in Hypothesen formuliert werden darf. Es ist hilfreich, sich die systemische Haltung auch visuell im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen zu führen, etwa durch entsprechende Flipcharts in den Räumen.

Bitte keine „Beratungsansatz-Überheblichkeit“ – Systemische Eignungsdiagnostik ist nicht per se besser.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Austausch über bestimmte Denkrichtungen und Methoden in der PE (z.B. Systemik, Agiles Arbeiten…) fast schon religiöse Züge annimmt: „.. Systemisches ist besser als..“…  „die arbeiten noch nicht systemisch, die sind in ihrer Entwicklung noch nicht so weit…“, „da muss man auch dran glauben“, „die haben noch nicht das richtigen Mind-Set“.. Vor diesem Hintergrund ist mir wichtig zu vermitteln: Systemisches Vorgehen ist nicht per se besser als eine „klassische“ Eignungsdiagnostik.

Und vor allem: Keine moralischen Urteile, bitte! Stattdessen: Kritisch prüfen, welche methodische Vorgehensweise am besten passt und idealerweise auch sinnvoll kombinieren – psychometrische Tests und simulationsorientierte Verfahren ergänzen sich sehr gut.

Achtung vor Machtmissbrauch! – Ein offenes systemisches Format erfordert Transparenz und Vertrauen.

Wenn Teilnehmende im Sinne der Selbstverantwortung zum Beispiel ihre Entwicklungsberichte selbst schreiben und entsprechend viel von sich preisgeben, dann muss transparent gemacht werden, wer im Nachgang die Texte für welche Zwecke nutzt. Ein selbstgeschriebener Bericht beispielsweise ist als Grundlage für eine Besetzungsentscheidung völlig ungeeignet und darf nur für Zwecke der Selbstreflexion eingesetzt werden.

Gleichzeitig öffnen sich in Systemischen Development Days auch die Beobachtenden, etwa, wenn sie im sogenannten „Umgekehrten Interview“ von den Teilnehmenden zu eigenen beruflichen Erfahrungen und auch Niederschlägen „interviewt“ werden. Auch dieses Wissen gehört geschützt. Nur wenn alle Beteiligten ein Gefühl von Vertraulichkeit und Sicherheit entwickeln, werden sie sich vollständig öffnen.

Vorerfahrung der Teilnehmenden berücksichtigen
– Systemische Eignungsdiagnostik darf die Beteiligten nicht überfordern.

Methodische Ansätze wie das situative Feedbackgeben nach jeder Übung im Development Center, das offene Reflektieren von Beobachtungsfehlern oder Peer-Feedback vor der Gruppe wirken sich meiner Erfahrung nach sehr positiv auf die Feedback-Kultur des Unternehmens aus. Sie erfordern allerdings eine hohe Kompetenz und Offenheit der Beteiligten. Haben sie wenig Erfahrung im Feedbackgeben, dann kann situatives, ungefiltertes Feedback auch schaden. Es hat einen Wert, Feedback abzustimmen und es als Austausch verschiedener, gleichwertiger Perspektiven einzuordnen.

In Kontexten, wo das Teilen von Perspektiven oder gar eigenen Empfindungen für die Beteiligten ungewohnt ist, können unangenehme Situationen entstehen. Eine teilnehmende Person in meinem Webinar zur Systemischen Eignungsdiagnostik fasste es so zusammen: „Es könnte auch zu feely sein“. Dann sollten die systemischen Methoden dosiert eingesetzt werden.

Subjektivität zulassen – aber systemisches Vorgehen bedeutet nicht Beliebigkeit.

Das ist mir besonders wichtig. Wenn man sich beispielsweise in einem Development Center die Subjektivität der eigenen Beobachtungen vor Augen führt und im Sinne einer konstruktivistischen Weltsicht deutlich macht, dass man sich über Perspektiven und nicht Wahrheiten austauscht, bedeutet dies keinesfalls, dass Entscheidungen unreflektiert und ohne Fundierung getroffen werden. Wenn das Bauchgefühl Raum bekommt, bedeutet dies in der Systemischen Eignungsdiagnostik keine Willkür. Vielmehr bezeichne ich es als „reflektierte Subjektivität“. Der große Mehrwert entsteht dann, wenn deutlich wird, wie unterschiedlich verschiedene Personen Verhaltensweisen bewerten und interpretieren.

Was folgt daraus?

Ich bin weiterhin tief überzeugt von der Idee, Systemische Haltung und Methoden auf die Eignungsdiagnostik zu übertragen.

Das jeweilige diagnostische Verfahren muss aber zur Zielsetzung passen: In „harten“ Auswahlkontexten sind systemische Verfahren weniger geeignet. Dort, wo es um Entwicklung und berufliche Orientierung geht, sind systemisch ausgerichtete Verfahren hingegen optimal, was Tiefe, Offenheit und Authentizität angeht. In jedem Fall ist immer eine Schulung der Beteiligten wichtig. Systemische Development Days etwa stellen ein wertvolles Format dar, um Young Professionals Orientierungshilfe zu geben und Antworten zu finden: Will ich eher Fach- oder Führungskraft werden? Eine Laufbahn als Expert:in einschlagen?

Und wie sieht ihr das? Was haltet ihr grundsätzlich von der Idee einer Systemischen Eignungsdiagnostik? Ich habe hier von Grenzen gesprochen? Wo seht ihr Chancen?

Schreibt mir (anke.teroerde-wilde@itb-consulting.de), diskutiert mit in den Webinaren oder folgt mir auf LinkedIn, wo ich regelmäßig zum Thema schreibe.

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