Systemische Eignungsdiagnostik – Wie systemische Haltung und Methoden die Eignungsdiagnostik bereichern
Fachkräftemangel, Digitalisierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Wunsch nach Sinn und Selbstverwirklichung. Es braucht heute eine individualisierte Personalentwicklung (PE), um Mitarbeiter:innen zu begeistern. Du willst Talente entdecken und fördern, ohne dass sich dabei andere als „Verlierer:innen“ fühlen? Du möchtest, dass Mitarbeitende ihre Entwicklung selbst in die Hand nehmen statt darauf zu warten, dass Du ihnen Entwicklungspläne vorlegst? Du willst mit innovativen PE-Lösungen dazu beitragen, Unternehmen zu attraktiven Arbeitgebenden zu machen?
Du bist einfach neugierig und willst wissen, was „the wall“ mit Eignungsdiagnostik zu tun hat?
Dann kann die Systemische Eignungsdiagnostik etwas für Dich sein. Diese Wortschöpfung bezeichnet den Ansatz, wissenschaftlich fundierte Eignungsdiagnostik mit systemischer Haltung und systemischen Methoden zu kombinieren.
Zwei Bausteine: Eignungsdiagnostik und systemische Beratung
In der Eignungsdiagnostik werden Aussagen über die Eignung von Personen für bestimmte Tätigkeitsfelder (z.B. Beruf oder Studium) getroffen. Sie beantwortet, verkürzt dargestellt, drei Fragen:
- Was sind die Anforderungen, die eine Tätigkeit mit sich bringt?
- Was braucht man, um diese Anforderungen zu erfüllen (z.B. Kompetenzen, Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften, Motivation, Werte etc.)?
- Mit welchen diagnostischen Methoden (z.B. Interviews, Testverfahren, Development Center, Management Assessments etc.) können die psychologischen Merkmale treffsicher erfasst werden? Dabei sollten die eignungsdiagnostischen Instrumente wissenschaftlich fundiert sein und anerkannten Qualitätsstandards wie die der DIN 33430 zur berufsbezogenen Eignungsdiagnostik entsprechen.
Systemische Ansätze sind mittlerweile gut etabliert in der Personalarbeit. Verkürzt gesagt: „Systemisch“ bedeutet, eine Person im Kontext ihres Teams, der Abteilung oder des Unternehmens zu sehen und alle Elemente wiederum in Wechselwirkung miteinander. Es gibt viele systemische Prinzipien und Methoden, die ich im Folgenden direkt auf das beziehe, was ich systemische Eignungsdiagnostik nenne.
1) Verschiedene Wahrnehmungen konstruktiv nutzen
Zu den systemischen Grundannahmen gehört, dass die Wahrnehmung der „Wirklichkeit“ nicht objektiv wahr oder falsch, sondern immer subjektiv ist: Alle nehmen ihre Umwelt unterschiedlich wahr und interpretiert sie entsprechend.
Wie sieht das in einem systemisch ausgerichteten Diagnostik-Verfahren konkret aus? Nehmen wir als Beispiel ein simuliertes Mitarbeitendengespräch: Klassischerweise betrachten Beobachtende (z.B. Personalverantwortliche, Führungskräfte) das Verhalten von Teilnehmendeen in einer solchen Übung, vergleichen dann das beobachtete Verhalten mit vorher festgelegten Verhaltensankern, die das „optimale“ oder „richtige“ Verhalten in dieser Situation beschreiben, und schätzen auf dieser Grundlage das Verhalten der Teilnehmenden als mehr oder weniger gut ein. In einem systemischen Verfahren gibt es keine solche Deutungshoheit, sondern es werden verschiedene Perspektiven betrachtet: Die Beobachtenden diskutieren mit den Teilnehmenden ihre individuellen Perspektiven auf das Gespräch. Dabei werden sogenannte „Beobachtungsfehler“, wie z.B. der Sympathieeffekt, nicht als Fehler, sondern als achtenswerte Reaktion auf eine Beobachtung offen ausgesprochen und konstruktiv genutzt: Wann empfinde ich eine Person als sympathisch? Wann als unsympathisch? Was sagt mein Bauchgefühl – und woran kann das liegen? Es geht also nicht darum, eine möglichst hohe Beobachtungsübereinstimmung zu erreichen und unterschiedliche Interpretationen zu nivellieren, sondern offen mit dem Teilnehmenden zu besprechen, welche Konsequenzen die unterschiedliche Wirkung ihres Verhaltens für sie selbst, für ihr berufliches Umfeld und ihre individuelle Entwicklung haben kann.
Ganz wichtig – da dies manchmal missverstanden wird: Subjektive Perspektiven zu diagnostischen Zwecken nutzbar zu machen bedeutet keinesfalls, beliebig zu sein oder nur aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Ganz im Gegenteil: Es geht um einen reflektierten Umgang mit den eigenen Wahrnehmungen, der von allen Beteiligten Fingerspitzengefühl und Vertrauen benötigt und sorgfältiger Schulung bedarf.
2) Auf die Haltung kommt es an: Wertschätzung, Ressourcenorientierung und Transparenz
Wertschätzung sollte in jedem diagnostischen Verfahren selbstverständlich sein. Es geht zudem darum, einen Lösungsfokus (anstelle eines Problemfokus) zu wählen und die positive Absicht und den Kontextbezug hinter anscheinend „unpassendem“ Verhalten zu entdecken. Ein Beispiel: Jemand unterbricht in einem Personalgespräch, lässt den anderen nicht zu Wort kommen oder droht ihm sogar. Ist dies ein Indiz für mangelnde soziale Kompetenz? Oder möchte die teilnehmende Person im Kontext eines Development Centers vielleicht die Erwartung erfüllen, besonders durchsetzungsstark zu sein und überzeichnet dabei? Diese Fragen und Annahmen werden offen geteilt – für die Teilnehmenden oft ein wertvoller Impuls zur Selbstreflexion („Neige ich als Führungskraft auch dazu, es schnell allen recht machen zu wollen?“). Transparenz bedeutet in systemisch orientierten Verfahren: Es wird nicht hinter verschlossenen Türen über, sondern mit den Teilnehmenden gesprochen.
Inhaltlich wird das Feedback ressourcenorientiert ausgestaltet und auf Stärken fokussiert: Sich weniger auf die Defizite, sondern darauf zu konzentrieren, welche Kompetenzen und Fähigkeiten jemand mitbringt, um ähnliche Situationen künftig anders zu gestalten. Feed-forward statt Feed-back.
3) Selbstverantwortung in der Diagnostik fördern
Niemand kennt die eigene Perspektive besser man selbst; somit besitzt jeder Mensch Expertise für sich selbst und die eigene Entwicklung. Dieses systemische Prinzip bedeutet für die Diagnostik: Die Teilnehmenden entscheiden selbst, welches Feedback hilfreich für ihre Entwicklung ist und woran sie zukünftig arbeiten wollen. Es gibt auch Verfahren, in denen die Teilnehmenden ihre eigenen Ergebnisberichte schreiben und diese später mit Personalverantwortlichen und den eigenen Führungskräften teilen. Idee dahinter: Selbstverantwortung fördern. Wenn Mitarbeitende ihre eigenen Entwicklungspläne entwickeln, steigt zudem die Wahrscheinlichkeit, dass PE-Maßnahmen auch wirklich im beruflichen Alltag umgesetzt werden.
Selbstverantwortung kann auch dadurch gefördert werden, dass Teilnehmende selbst darüber entscheiden, welche diagnostischen Übungen sie durchführen – dies ist vor allem dann wertvoll, wenn es um berufliche Orientierung geht: Um zu wissen, ob ich mich als Führungskraft, Fachkraft, Product Owner oder SCRUM-Master sehe, muss ich verschiedene Situationen ausprobieren und entsprechend Feed-forward dazu erhalten.
Wichtig: Der Grad der Selbstverantwortung muss zur Zielsetzung des Verfahrens passen. Wenn Mitarbeitende sich beispielsweise fit machen wollen für eine neue berufliche Rolle, dann sind selbst geschriebene Ergebnisberichte ein wertvolles Entwicklungsinstrument. Für Besetzungsentscheidungen eignen sie sich nicht.
4) Systemische Eignungsdiagnostik = Mut zu neuen Methoden
Seit 10 Jahren probieren meine Kolleg:innen und ich in systemisch ausgerichteten eignungsdiagnostischen Verfahren immer wieder neue Methoden und Vorgehensweisen aus. Hier ein paar Beispiele:
Reflecting Team: Eine bewährte Feedback-Methode aus der systemischen Beratung, in der es um Perspektivenvielfalt und Lösungsfindung geht – eine spannende Möglichkeit um nach simulierten Team-Meetings Reflexion anzuregen.
The Wall: Als Experte:in ihrer eigenen Entwicklung schreiben Teilnehmende ihre 3 wichtigsten Stärken und Entwicklungsfelder nach jeder Übung auf eine (virtuelle) Metaplan-Wand. Diese bildet die Grundlage für den Austausch mit Peers und für die Beobachter:innenkonferenz.
Umgekehrtes Interview: Teilnehmende interviewen die Beobachtenden, nicht umgekehrt, und lernen so aus deren Erfahrungen, z. B. wenn es um die Übernahme einer neuen (Führungs-)Rolle geht. Gleichzeitig erkennen die Beobachtenden an den Fragen der Teilnehmenden, worüber diese nachdenken, was sie bereits wissen, welche Ideen sie zu den künftigen Anforderungen haben etc.
Sharing: Nach einer diagnostischen Übung äußern Beobachtende, was sie für sich selbst gelernt haben, oder sie bekommen von den Teilnehmenden Rückmeldung zu ihrem Feedback-Verhalten. Dieser Austausch macht alle Beteiligten zu Lernenden – und reduziert das implizite oder explizite „Machtgefälle“, das sich oftmals einstellt, wenn Menschen von anderen beurteilt werden.
Systemische Eignungsdiagnostik – Chancen und Grenzen
Natürlich wirft die Idee einer systemischen Eignungsdiagnostik auch Fragen auf: Was ist, wenn sich Mitarbeitende gar nicht selbstverantwortlich weiter entwickeln wollen oder können? Was macht man, wenn sich Beteiligte nicht auf das offene Format einlassen? Sollte das Bauchgefühl zugunsten der Objektivität nicht doch konsequent kontrolliert werden?
Mir liegt es am Herzen, die systemische Eignungsdiagnostik weiter zu entwickeln, und ich möchte mit Interessierten aus Wissenschaft und Praxis über deren Chancen und Grenzen diskutieren.
Wenn auch Du Interesse am Thema hast, melde Dich gern zu meinem Online-Impuls mit abschließendem Austausch an:
Wie können systemische Haltung und Methoden die Eignungsdiagnostik in der Personalentwicklung bereichern? Im Webinar gebe ich anhand konkreter Beispiele alltagsnahe und wissenschaftlich fundierte Einblicke in die systemische Eignungsdiagnostik.