Warum Berufserfahrung nicht alles ist…

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… und wir Diagnostik im Recruiting brauchen zeigt eine kürzlich erschienen Metaanalyse, die herausgefunden hat, dass die Vorhersagekraft von Berufserfahrung in der Personalauswahl deutlich geringer ist, als bisher angenommen. Diagnostische Elemente, wie Tests, Interviews oder simulationsbasierte Auswahlverfahren werden dadurch umso wichtiger, um geeignete Bewerber in einem Besetzungsprozess nicht zu verlieren.

Berufserfahrung als Kriterium in der Personalauswahl

Die meisten Stellenanzeigen, die wir in diversen Börsen oder sozialen Plattformen finden, beschreiben relativ konkret, was sich ein Unternehmen von seinen zukünftigen Mitarbeitern wünscht. Für die allermeisten Jobs wird dabei ein gewisses Maß an Berufserfahrung angegeben, selbst Einstiegsjobs sind davon oftmals nicht ausgenommen. Studien zeigen diesbezüglich, dass Bewerber mit mehr Berufserfahrung besser bewertet werden, als Bewerbern mit weniger Berufserfahrung, dass Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die einem Bewerber zugeschrieben werden, oftmals aus dem Maß seiner Berufserfahrung abgeleitet werden und dass daraus resultierend, Bewerber mit mehr Berufserfahrung im Einstellungsprozess bevorzugt werden.

Was gibt es daran auszusetzen? Per se natürlich erstmal gar nichts. In Zeiten des Fachkräftemangels und einem generellen Kampf um Talente müssen sich Unternehmen aber fragen, ob ihnen durch dieses Vorgehen nicht viele interessante Bewerber verloren gehen und ob es sinnvoll ist, Bewerber aufgrund von geringer Berufserfahrung nicht im Bewerbungsprozess zu berücksichtigen.

Aktuelle Studienergebnisse

Eine aktuelle Metaanalyse, die 81 unabhängige Studien zur Vorhersagekraft von Berufserfahrung für die Arbeitsleistung und die Fluktuation ausgewertet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Menge, die Dauer und die Art der Erfahrung, die man vor dem Eintritt in eine neue Organisation („pre-hire experience“) gewonnen hat, wenig relevant ist. Ganz konkret zeigt die Metaanalyse, dass pre-hire experience die Arbeitsleistung von zukünftigen Mitarbeitern nur zu einem sehr geringen Maße (r = .06) vorhersagen kann. Fluktuation kann zudem gar nicht vorhergesagt werden (r = .00).

Das bedeutet also, dass z. B. Bewerber mit langjähriger Berufserfahrung nicht unbedingt geeigneter für eine bestimmte Stelle sein müssen als solche, ohne Berufserfahrung. Wird im ersten Bewerbungsprozess zu stark auf das Thema Berufserfahrung fokussiert, schaffen es folglich möglicherweise ungeeignete Kandidaten in den weiteren Besetzungsprozess, während geeignete Kandidaten schon frühzeitig aussortiert werden. Eine Fehlentscheidung die mitunter teuer werden kann. Was kann man daher tun, um diese zu vermeiden?

Möglichkeiten von gezielter Diagnostik

In einem ersten Schritt sollten immer die Anforderungen klar definiert werden, z. B. mittels einer Anforderungsanalyse, um so belastbare Kriterien für den ersten Schritt im Auswahlprozess zu erhalten.

Darüber hinaus können mit Hilfe von Testverfahren, die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Bewerbern, die für einen bestimmten Job relevant sind und die unabhängig von dem Grad der Berufserfahrung stärker oder geringer ausgeprägt sein können, überprüft werden. Hier bieten sich klassische Tests, wie z. B. zur Erfassung kognitiver Fähigkeiten an, die die Vorhersage von Arbeitsleistung in einem hohen Maße ermöglichen. Aber auch Situational-Judgement-Tests können hilfreich sein, um einen ersten Eindruck darüber zu bekommen, wie ein Bewerber sich in bestimmten stellenrelevanten Situationen verhalten würde. Im Rahmen einer möglichst guten Candidate Experience, sollten die Tests in jedem Falle einen hohen Bezug zu der ausgeschriebenen Stelle haben.

Im weiteren Verlauf eines Einstellungsprozesses sollte darüber hinaus darauf geachtet werden, dass z. B. anhand von multimodalen Interviews und Arbeitsproben im Assessment-Center Format (etwa die Simulation eines Gesprächs oder einer Präsentation) untersucht wird, inwieweit ein Bewerber die Anforderungen an eine Stelle erfüllt und die nötigen Kompetenzen mitbringt. Denn beobachtbares Verhalten in Auswahlsituationen erlaubt Rückschlüsse auf stabile Eigenschaften und Fähigkeiten einer Person, die sich damit viel eher als die reine Berufserfahrung eignen, Vorhersagen für das zukünftige Verhalten zu treffen.

Berufserfahrung und Personalentwicklung

Dabei muss man sich natürlich die Frage stellen, welche Kriterien man einen solchen Bewerbungsprozess anlegt und wie der eigene Wunschkandidat aussieht. Den „perfekten Bewerber“ zu finden, wird immer schwieriger – und ist auch eigentlich gar nicht nötig. Studien zeigen nämlich auch, dass die Berufserfahrung, die man nach dem Eintritt in ein Unternehmen sammelt, sich positiv auf die Arbeitsleistung und die Trainingsleistung in diesem Unternehmen auswirken. Gepaart mit gezielten Entwicklungsmaßnahmen, wie Trainings und on-the-job-Entwicklung, die auf den Ergebnissen des diagnostischen Auswahlprozesses aufsetzen, können Lücken, die in Bezug auf vorab definierte Anforderungen bestehen, schnell geschlossen werden.

Weitere Infos: Van Iddekinge, C. H., Arnold, J., Frieder, R. E. & Roth, P. L. (2019). A Meta-Analysis of the Criterion-related Validity of Pre-hire Work Experience. Personnel Psychology, DOI: 10.1111/peps.12335

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